Dr. Helmut Hollmann, Vizepräsident der DGSPJ

Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin DAKJ

Beitrag für die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin

Die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin steht für alle speziellen Belange ein, die die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen betreffen. Hierzu zählen insbesondere Aspekte der Gesundheitsförderung und der Vorbeugung von Entwicklungsstörungen in Verbindung mit dem Gemeinwesen. Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen benötigen mit ihren Familien eine langfristige Begleitung und Behandlung. Hierzu steht in Ergänzung zur vertragsärztlichen Regelversorgung in Deutschland ein annähernd flächendeckendes Netz mit 132 Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) zur Verfügung. Psychologen und Therapeuten, Sozialarbeiter und Pädagogen arbeiten unter kinderärztlicher Leitung unmittelbar zusammen. Die Tätigkeit der SPZ findet hohe Anerkennung und Akzeptanz; jährlich werden ca. 250.000 Patienten behandelt. Neben den medizinischen Belangen steht der Aspekt einer bestmöglichen Realisierung von Teilhabe an der Gesellschaft im Mittelpunkt. Das Bewusstsein für die Existenz dieser spezialisierten Versorgungsform ist nur bei den Betroffenen sowie den Kinder- und Jugendärzten ausgebildet. In der Politik stellen die SPZ ein sträflich vernachlässigtes „Schatzkästchen“ dar.

Es ist ein Skandal, dass auch 20 Jahre nach Verankerung der Sozialpädiatrischen Zentren in der Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung 1988 die Finanzierung der dort erbrachten ausgezeichneten Leistungen gerade für besonders benachteiligte Kinder und Jugendliche immer noch nicht vollständig festgelegt ist. Dies muss in Analogie zur Frühförderung (§30 SGB IX), wo die gemeinsame Zuständigkeit der Krankenkassen und der Sozialhilfeträger festgelegt ist, mit entsprechenden Vorgaben für die Kostenträger geregelt werden.

Aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin stellt die außerfamiliäre institutionelle Betreuung von Kindern das größte Problem im sozialmedizinischen Kontext dar.

Es ist zwar sehr deutlich und anzuerkennen, dass von der Politik parteiübergreifend in den letzten 6 Jahren viele Rahmenbedingungen verändert oder neu geschaffen worden sind und somit Weichenstellungen in die richtige Richtung erfolgten. Die positiven Umfrage-Ergebnisse, die im 1. Familienbericht der Bundesregierung im Februar referiert werden, bestätigen die große Akzeptanz gerade bei jungen Familien.

Trotzdem brauchen wir mit größter Priorität ein „Konjunkturprogramm für Kinder“, damit die staatlich anerkannten Institutionen ihren Aufgaben der Betreuung für Kinder und Jugendliche von 1 bis 18 Jahren gerecht werden können. Derzeit ist das nur eingeschränkt der Fall.

Die Betreuung von Kleinstkindern unter 3 Jahren muss in den Kinderkrippen personell zahlenmäßig ebenso wie qualitativ zuverlässig und nicht wie jetzt zufällig geregelt sein.

Ebenso müssen Mindest-Standards für die Betreuung durch Tagesmütter festgelegt werden.

In den Grundschulen besteht die Notwendigkeit, den Unterricht in wesentlich kleineren Klassen durchzuführen. Optimal ist die Begrenzung auf 20 Kinder. Gleichzeitig müssen dort systematische qualifizierte sonderpädagogische Möglichkeiten flächendeckend vorhanden sein, um einen Integrativen Unterricht gestalten zu können, der diesen Namen auch verdient. Die momentan an vielen Stellen praktizierten Vorgehensweisen mit lediglich stundenweiser Unterstützung durch Sonderpädagogen sind Pseudo-Lösungen.

Für Kinder und insbesondere Jugendliche an weiterführenden Schulen muss die Ganztags-Betreuung in der pädagogischen wie auch inhaltlichen Gestaltung gesichert sein. Pausenzeiten und Ernährung müssen solchen Anforderungen entsprechen, die den „Arbeitsplatz Schule“ vergleichbar machen hinsichtlich der für Erwachsene gesetzlich vorgeschriebenen Arbeitsschutzbestimmungen. Die Umsetzung dieser Maßnahmen in der außerfamiliären institutionellen Betreuung sind zwingend und mit Dringlichkeit erforderlich, um die ständige Zunahme an sekundären Entwicklungsstörungen insbesondere in der Sprache und Motorik, aber auch im Verhalten zu stoppen. Sie verursachen erhebliches Leid für die Betroffenen, verschlechtern die Bildungs- und Berufschancen und führen zu einer wesentlichen Zunahme der Kosten im Gesundheitssystem sowie zur rasant steigenden Verordnung von Psychopharmaka.

In der außerfamiliären Lebenswelt der Institutionen ist die medizinische Versorgung wichtig. Die Kinder- und Jugendärztinnen des Öffentlichen Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes nehmen die Aufgaben des „Betriebsarztes“ für Kinder und Jugendliche in Krippe, Kindergarten und Schule wahr. Sie sind gleichzeitig ein wichtiger Ansprechpartner in Fragen des Kinderschutzes und wirken im Rahmen der Kooperation mit den Jugendämtern im System Früher Hilfen zur Gewaltprävention mit.

Der Öffentliche Kinder- und Jugendgesundheitsdienst ist ein Stützpfeiler in allen Bereichen, die nicht durch die Versorgung der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte abgedeckt werden können. Deshalb muss sein Bestand garantiert und die personelle Besetzung in vielen Region erweitert werden.

Alle politischen Parteien sind aufgerufen, dieses von der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin vorgeschlagene „Konjunkturprogramm für Kinder“ mit Priorität aufzulegen. Auch wenn bei der Umsetzung erhebliche und vor allem dauerhafte Kosten entstehen, muss eine Realisierung in den nächsten 5 Jahren möglich sein.

(Dr. Helmut Hollmann)