Prof. Dr. Gernot Sinnecker, Vorsitzender der VLKKD

Pressemitteilung zum Thema: Qualitätskriterien in der Neonatologie – „Die Zahl gesunder Neugeborener zählt!“

Die intensivmedizinische Versorgung sehr kleiner Frühgeborener ist teuer und personalintensiv. Um Kosten zu sparen haben die Vertreter der Krankenkassen im gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) wiederholt die Einführung von hohen Mindestmengen als Zulassungsvoraussetzung zur Betreuung sehr kleiner Frühgeborener gefordert. Da diese Forderung unter den Spezialisten für die intensivmedizinische Betreuung dieser Kinder, den Neonatologen, sehr umstritten ist, wurde vom G-BA eine Studie in Auftrag gegeben, die mit den zur Verfügung stehenden Methoden der Wissenschaft klären sollte, ob die Einführung von Mindestmengen in der Neonatologie eine Verbesserung der Ergebnisqualität erwarten ließe.

Diese Studie wurde von dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) durchgeführt, die Ergebnisse wurden im Rahmen einer wissenschaftlichen Aussprache intensiv diskutiert und im Herbst 2008 abschließend veröffentlicht. Demnach konnte ein kausaler Zusammenhang zwischen der Leistungsmenge (=Anzahl der pro Jahr behandelten sehr kleinen Frühgeborenen) und dem Ergebnis (Sterblichkeit und Komplikationen) nicht nachgewiesen werden. Das Institut resümiert, dass „Aussagen über spezifische Schwellenwerte (=Mindestmengen) aufgrund der vorliegenden Datenlage keine sichere wissenschaftliche Basis haben. Andere Faktoren wie geburtshilfliche Bedingungen, der Transport von Mutter und Kind, die tägliche mittlere Belegungsrate, die Anzahl erfahrener Geburtshelfer/Neonatologen und speziell ausgebildeter Pflegekräfte...können Auswirkungen auf die untersuchten Zielgrößen (=Ergebnisqualität) haben“.

Der G-BA hat mit Wirkung vom 01. Januar 2006 Qualitätskriterien für die Versorgung sehr kleiner Frühgeborener definiert, die erfüllt sein müssen, um Risikoschwangerschaften und Frühgeborene versorgen zu dürfen. Dabei geht es in erster Linie um die Qualität von Personalausstattung und Infrastruktur, die notwendig sind, um gute Arbeit leisten zu können. Dieser Beschluss wurde von der VLKKD ausdrücklich begrüßt, da eine Definition verschieden ausgestatteter Versorgungsqualitäten (= „Level“) mit entsprechenden Zuweisungs- und Übernahmekriterien sinnvoll und notwendig war. Insbesondere begrüßte die VLKKD, dass durch die klar definierten Anforderungen an ein „Level 1-Zentrum“ diejenigen Einrichtungen, die in die Versorgung sehr kleiner Frühgeborener eingebunden waren, nunmehr das entsprechende Personal vorhalten mussten. Das hat in vielen Kliniken zu einer deutlichen Verbesserung der Personalsituation und damit auch der Versorgungsqualität geführt.

Mit Sorge begleitet die VLKKD allerdings die anhaltende Diskussion um die Einführung größerer Mindestmengen in der Neonatologie, die falsche Anreize setzen würde. Ziel aller Bemühungen darf nicht sein, möglichst viele Frühgeborene zu versorgen, sondern möglichst viele gesunde Kinder zu haben! Die Neonatologie kann und darf nicht isoliert, ohne die Geburtshilfe betrachtet werden. Wenn es gelingt, die Schwangerschaft über die kritische Zeit hinaus zu halten, sind die Chancen für das Kind, gesund zu bleiben, erheblich größer als wenn ein sehr kleines Frühgeborenes an einem noch so guten Zentrum geboren wird.

Ausgerechnet diejenigen Perinatalzentren mit einer sehr guten Geburtshilfe, die relativ weniger sehr kleine Frühgeborene und mehr gesunde Kinder hervorbringen, könnten ihre Existenz gefährden, wenn es ihnen gelingt, Schwangerschaften überdurchschnittlich oft über den kritischen Zeitpunkt hinaus zu halten und damit Gefahr laufen, die erforderliche Mindestmenge an „Therapieversagern“ (eine extreme Frühgeburt bedeutet immer ein Versagen der therapeutischen Bemühungen!) nicht mehr zu erreichen. Der Anreiz muss sein, Schwangerschaften so lange wie möglich zu erhalten und möglichst viele reife, gesunde Kinder zur Welt zu bringen.

Dazu ist eine ganzheitliche, perinatologische Betrachtung des Problems unabdingbar. Die zu betrachtende Grundgesamtheit ist die Anzahl der betreuten Schwangerschaften bzw. die Anzahl von Risikoschwangerschaften, in denen vorzeitige Geburtsbestrebungen behandelt werden müssen. Die frühe Intervention, die Qualität der Behandlung bedrohter Schwangerschaften, spielt für das Ergebnis (gesundes Kind) sicher eine entscheidende Rolle und sollte deshalb bei der Beurteilung der Qualität eines Perinatalzentrums maßgeblich gewürdigt werden: „Die Zahl gesunder Neugeborener zählt!“.

In Anbetracht der bereits sehr guten vorhandenen Versorgungsqualität in der Neonatologie, des Fehlens wissenschaftlich begründbarer Argumente für die Einführung größerer Mindestmengen und der unabsehbaren Risiken für die intensivmedizinische Versorgungsstruktur aller Kinder im Rahmen einer starken Zentralisierung vertritt die VLKKD den Standpunkt, dass die Auswirkungen bisheriger G-BA-Beschlüsse auf die Versorgungsqualität von Frühgeborenen zwingend wissenschaftlich analysiert werden müssen, ehe aus Kostengründen immer wieder neue Veränderungen gefordert werden, deren Auswirkungen auf die Versorgungsstruktur von früh- und neugeborenen Risikokindern in Deutschland unabsehbar sind.

Prof. Dr. med. Gernot H.G. Sinnecker
Vorsitzender der Vereinigung Leitender Kinder- und Jugendärzte und Kinderchirurgen Deutschlands (VLKKD)


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